Schlechte Zeiten für den Charme des Kiesels Davids?

26. Juli 2003

Von Peter Hahnen

Über das Neue Geistliche Lied (im folgenden: NGL) nachzudenken, hat derzeit so etwas wie Konjunktur. Nicht zuletzt die diversen Kollateral-Diskussionen über das neue Gebet- und Gesangbuch fachen die Thematik an. Auch das steigende Interesse an der jährlichen „Überdiözesanen Fachtagung Neues Geistliches Lied“, die die Arbeitsstelle für Jugendseelsorge der Deutschen Bischofskonferenz verantwortet, ist hierfür ein Indikator. Zuletzt hat in diesem Sommer der Ökumenische Kirchentag in Berlin in seinem Kulturprogramm mit einer Fülle an NGL-Gruppen zu verblüffen vermocht. War vorab gemutmaßt worden, dass das NGL bereits im Vorfeld ausgesiebt würde, da die evangelische Kirche stattdessen längst das Gospel revitalisiert und die „Ten Sing“-Arbeit entdeckt habe, das NGL zudem bitteschön eine konfessionell beschränkte Variante mit Neigung zur Kümmerform darstelle, punkteten die „Regionalen Ökumenischen Auswahlgruppen“, die man zur Sichtung der über 700 Bewerbungen um Mitwirkung gebeten hatte, das Genre NGL wider Erwarten ganz nach oben. Das beeindruckende Ergebnis konnte man in Berlin erleben.

Geschichte mit Absicht
Die Erklärung, hier breche sich vornehmlich nostalgische Gestimmtheit Bahn, vermag angesichts solch massierter Befunde nicht so recht zu überzeugen. Freilich: Das NGL ist im Wandel begriffen und in Teilen wohl auch etwas grauhaarig geworden. Was in den sechziger Jahren als mühsam eingedeutschtes Gospel – wenn auch in seinem Erfolg erheblich durch zentraleuropäische Mentalität gehemmt – begann, dann über Kirchen-Jatz das Klanggewand des Modern Jazz Quartett in die liturgischen Räume holte und sich in den siebziger Jahren schließlich über Beat-orientierte Idiome Bahn brach, war für viele Hoffnung und Signal zugleich. Lieder wie „DIE SACHE JESU BRAUCHT BEGEISTERTE“ und das „ANDERE OSTERLIED“ (markanter Beginn der ersten Strophe: „Das könnte den Herren der Welt ja so passen, wenn hier auf der Erde stets alles so bliebe“) waren ihrem Ursprung nach etwas ganz anderes als pastoralpsychologisch ausgebuffte Tricks von Marketingstrategen, die durch derlei Event-Qualität (vornehmlich junge) Leute, in die Kirche locken wollten.

Zur Funktionalität des NGL
Das NGL stand für anderes, denn für eine simple Werbemaßnahme. In seiner Machart ähnlich dem rustikalen, ungeputzten Charme jenes Kieselsteins, wie ihn der widerständige David frech in seine Schleuder legte, formulierte sich hier ein Wille zu Beherztheit, zu Kirchen- und Selbstreform, der weite Teile des Kirchenvolkes erfasst hatte. Kirchenreform, weil die als unzugänglich und irrelevant erlebte Liturgie endlich geerdet werden sollte. Selbstreform schließlich, weil man mit den Liedern (und den Gottesdiensten, für die sie oft eigens absichtsvoll kreiert wurden) ethische Lebenshaltungen propagierte, die man selber teilte. Die Songs von Peter Janssens und anderen waren sozusagen die Klangtapete zum Abonnement von „Publik“ (später „Publik Forum“). Mit inhaltlich harmloseren Kuschelliedern wollte man ausdrücklich nichts zu tun haben. Dass das teils offenkundige, teils nur implizite Programm des NGL durchaus wahrgenommen wurde, zeigen vice versa die zahllosen Attacken, die es über sich ergehen lassen musste. Formulierungen wie „Aftermusik“ und Interviewpartner, die sich dazu verstiegen, man müsse die Leute, die solches mitmachten, „totschlagen“, markieren da nur die Gipfel jenes rhetorischen Overkillpotenzials mit dem gegen das NGL aufgerüstet wurde. Identifikation und Ablehnung waren die Möglichkeiten, die sich – wie bei allen Spielarten der Pop-/Rockmusik – einstellten. Das Distinktionspotenzial des NGL war erheblich.

Die Situation veränderte sich, als der emanzipatorische Grundzug des NGL immer mehr Liebhaber, Epigonen, Amateure und Dilettanten dazu veranlasste, selber Liedtexte zu schreiben bzw. zu vertonen. Nicht immer trennte sich dabei Spreu von Weizen. Etwa Mitte der achtziger Jahre trat die erste Garde der Protagonisten sukzessive ab. Der Tod von Peter Janssens (Heiligabend 1998) und Wilhelm Willms (Weihnacht 2002) mag hierzu die endgültigen Zäsurdaten bieten. Eine nächste Generation ist längst den Workshops entwachsen: Thomas Laubach und Gregor Linßen sind da nur als zwei prominente Vertreter zu nennen. Und längst haben diese Kreativen Lehraufträge, bieten Seminare an oder geben wiederum Jüngeren Hilfestellung. Der Qualität von Texten, dem Text-Musik-Vehältnis und der Kompositionen ist dies nach strengen kunstfertigen Maßstäben nicht immer anzumerken. Aber, um nochmals den biblischen Vergleich aus dem Samuelbuch zu bemühen, auch der Kiesel Davids war nicht kunstvoll aufbereitet. Einen imposanten Schlussstein für Paläste hatte der zornige Junge nicht im Sinn, als er sich in den Staub bückte. Der Kiesel kam von der Straße, war vergleichsweise unscheinbar, aber er war eben effektiv! Das genügte.

Gefragtes NGL
Zunächst schleichend, längst aber unübersehbar hat sich das Bedingungsfeld des NGL gewandelt. Der laute Wille zu Kirchen- und Selbstreform hat eher abgenommen. Zeitgleich stellt die Musikwissenschaft fest, dass man in musikalischer Hinsicht nicht mehr so sehr auf angespitzte Programmatik und Distinktion setzt. Stilvielfalt ist selbstverständlich. So relativieren sich die Ablehnungsquoten und Identifikationsquoten diverser Musikstile, auch des NGL. Im gleichen Zug haben Praise-Music, Gospel und Christian Contemporary Music ihre Nischen besetzt und ausgebaut. Sie sind ein lohnend(er)es Geschäft. Ein Blick in Szene-Zeitschriften wie „EXACT!“ oder auf Veranstaltungen wie CHRISTIVAL und PROMIKON genügt, um festzustellen, dass die Sinnspitze aktueller kirchlicher Musikidiome eher dogmatisch verblüffungsfest ist. Man verfügt über eine gewisse Zeigefreudigkeit, die allen gegenüber Zeugnis ablegen will (auch im Konzert). Das Programm zielt nach innen und steht für privatime Selbstbesorgtheit.

Neben prominenten Geschwistern wie „Normal Generation?“ kann ein Großteil aktueller NGL im direkten Vergleich verblassen. Dabei muss es gar nicht – wie weiland der Hase den Igeln – dorthin hasten, wo es gar nicht hin will. Stärken hat es nämlich nach wie vor. Unzählige Rezipienten greifen auf die Lieder zurück. Die aber stehen selten im Lichte.
Dass das NGL im Nachfolgeprodukt vom GOTTESLOB angemessen vorkommen muss, hört man auch aus dem Umfeld der entsprechenden Unterkommission der Bischofskonferenz. Der Boom an jungen Chören signalisiert ebenfalls hohen Bedarf an Liedern.
Fragt man nach, erfährt man, dass sie als „Lieder, die mit uns zu tun haben”, „die uns ernst nehmen” usw. geschätzt werden. Es fehlt nicht an Multiplikatoren und an Anwendern des NGL. Vielleicht sind diese weniger ambitioniert als in Zeiten des Kölner Politischen Nachtgebets und der Düsseldorfer Beatmessen, aber es fehlt weithin auch der „Gegner”, den eine feurige Theologie zur Selbstentfachung braucht. Zudem: Längst hat sich das NGL etabliert, gehört es mehr zum Repertoire denn zum revolutionär oder innovativ Neuen. Aber auch in diesem Status erlebt man Gottesdienste, in denen man sich mit diesen Lieder (übrigens über alle Altersgrenzen hinweg) mit spürbarer Freude und Anteilnahme „aussingt”.

Fragt man etwa, was sich Jugendliche im Gottesdienst wünschen, sieht man sich zu neuen Liedern geradezu herausgefordert. Als es Ende der neunziger Jahre durch das Diözesanjugendamt Osnabrück eine breit angelegte Untersuchung (quantitative Befragung) unter Schülern des Faches Katholische Religion gegeben hat, kritisierten diese vorrangig langweilige (39,64%) und altmodische Messen (25,84%). Gefragt was ihnen wichtig ist, ergab sich folgende Reihung:

  • Kommunion (41,64%)
  • Lieder (30,06%)
  • Friedensgruß (24,69%).

Tatsächlich ist es die zeitgenössische Form, die sich viele Jugendliche ausdrücklich für die Liturgie wünschen: moderne Instrumente (41,72%), moderne Lieder (37,42%), moderne Texte (34,36%), Spielszenen (26,3%) und gemeinsames Singen (22,93%) bilden hier die Spitze. Die höchste Zustimmung überhaupt gibt es für das NGL, Lieder aus dem GOTTESLOB liegen abgeschlagen auf dem letzten Rang. Das Material einer Vorstudie, die das Forschungsprojekt der „Arbeitsstelle für Jugendseelsorge der Deutschen Bischofskonferenz“ zur spirituellen Valenz der Weltjugendtage gesammelt hat, bestätigte unlängst, dass mehr als die Hälfte der Jugendlichen (und hier liegt die Altersspanne von 16-28 Jahren) den Gottesdienst ihrer Heimatgemeinde als mangelhaft vorbereitet und 39% als „eintönig“ empfinden. Die Jugendlichen suchen nach neuen Liedern: Die Hälfte der Befragten (48%) geben dies als einen ausdrücklichen Beweggrund ihrer Teilnahme beim Weltjugendtreffen an.
Die These von der „Sanglosen Generation“ ist gesamtgesellschaftlich gesehen vielleicht richtig. Die jüngste Shell Jugendstudie hat denn schon gar nicht mehr nach eigener Musik-Aktivität (Instrument spielen, geschweige denn Singen) gefragt. Die Zahl der Chöre hat in Deutschland innerhalb der letzten 15 Jahre aber von 34.000 auf 45.000 zugenommen und die Zahl der Sängerinnen und Sänger hat um 200.000 auf über 1,4 Millionen zugenommen. In den rund 25.000 Chören der beiden großen christlichen Konfessionen sind 700.000 Christen aktiv.
Hierzu korreliert eine Untersuchung der innerkirchlichen Klientel, die Anfang 2001 auf der „Fachkonferenz Neues Geistliches Lied“ von Peter Deckert vorgestellt werden konnte. Demnach gibt es in den deutschen Bistümern über 1.895 Jugendchöre und Bands, die mit NGL arbeiten. Diese Gruppen sammeln mehr als 33.000 aktive Jugendliche um sich. Das NGL stellt also eine nicht unerhebliche Größe im Leben unserer Gemeinden dar.

Man darf angesichts all dieser Befunde getrost davon ausgehen, dass für das NGL großer Bedarf besteht. Das Phänomen des NGL ist anders denn als ein zeitgeschichtliches Perdu einzuordnen, in heftigen „Ausreissern” zum Popanz aufzubauschen, in schwachen Exemplaren zu belächeln. Gelassenheit ist an die Stelle ideologischen Getöses getreten.

Das NGL hat vielleicht ein weniger scharfes Profil als früher, aber es ist ein selbstverständliches Medium der musisch-kulturellen Arbeit in der Pastoral geworden. So verlagert sich sein Gewicht mehr, als dass es schwindet.

In einem Kreis von Vertretern der Jugendpastoral und Kirchenmusik nutzte ich am Jahresbeginn die Gelegenheit zur Nachfrage über den aktuellen Stellenwert des NGL. Die Antworten verblüffen nur den, der seine Rechnung ohne die Akteure der Pastoral macht: Da wird zum Beispiel auf die schnelle Erlernbarkeit der Lieder rekurriert, wird schlichtweg berichtet, dass diese Lieder viele Menschen ansprechen und zum Singen und zur Kommunikation über Glaube und Spiritualität einladen. Ein hauptamtlicher Kirchenmusiker beobachtet, dass Gruppen, die eben nicht immer „angeleitet“ werden wollen, sich mit dem NGL musikalischen Ausdruck ohne fremdes Zutun erschließen können, der ihnen sonst fehlt. Von einem in der Chorarbeit engagierten Lehrer aus Erfurt wird konstatiert, dass eben diese Einfachheit der Songs naturgemäß in Spannung zu des Ansprüchen der Professionalität stehen: „Gekünstelte Lieder aber wenden sich von der pastoralen Arbeit ab!“. In den Tagen der Trauer angesichts des Amoklaufes an einer Erfurter Schule seien es aber gerade NGL gewesen, die die Sprachlosigkeit zu überwinden und zu trösten halfen. Eine andere Mitarbeiterin gibt ihre Erfahrung so wieder: „Es wird manchem ein Denkanstoß gegeben. Mehr als von alten Liedern mit mittelalterlichen Texten.“ Und ein Kantor aus dem Bistum Dresden-Meißen: „Das NGL bringt nach wie vor Frische in die Gottesdienstgestaltung.“ Vor allem aber: Das NGL ermöglicht künstlerischen Ausdruck von vielen. Christoph Kießig von der Berliner Band „Patchwork“: „Das NGL ist einer der wenigen Stellen, an denen Jugendliche und Erwachsene nicht nur konsumieren!“. Ein Vorteil ist zweifelsohne, dass das NGL solches identiätssubstituierendes Erleben ermöglicht ohne all zu großen Aufwand und auch dort, wo Profis in den Gemeinden, geistlichen Gemeinschaften usw. fehlen!“

Lebendige Bausteine
Der Kirche kann es nicht egal sein, wenn Lieder fehlen, die dem Glauben aufhelfen und Schwingen verleihen. Die Kirchenmusik im Ganzen sieht sich mit der Frage konfrontiert, ob sie eine tragfähige Theologie musikalischen Handelns anbieten kann. Eine solche Selbstvergewisserung hätte alle Subjekte des Volkes Gottes als Akteure des Glaubens ernst zu nehmen. So wenig monoton durchgestylt die Lebenswelten der Menschen noch sind, so mehr ist es beispielsweise an der Zeit, musikalischen Pluralismus auch in der theologischen Reflexion zu verankern. An Qualitätsansprüchen sollte man festhalten. Aber weniger um ein Bollwerk zu errichten als vielmehr Sinne zu bilden und zu schulen. Eine solche Theologie würde nicht nur die Kunstfertigkeit von (Kirchen)Musik präsentieren und reproduzieren, sondern die Musik praktisch-theologisch reflektieren und Konzepte für die musikalische Praxis entwickeln. Dazu gehörte es, eben viele Stile zu unterstützen und zu qualifizieren. Denkbar wäre zum Beispiel, dass es für den anstehenden Weltjugendtag 2005 in Deutschland eine eigene kirchenmusikalische Initiative gibt. Kompetent begleitete Workshops könnten ausgerichtet werden, die das Liederprogramm dieser wichtigen Tage mit heranzubilden zu helfen.
Lieder entstünden so nicht für die Ewigkeit, aber sprichwörtlich für den Tag. Lieder, die – um ein Diktum von Wilhelm Willms aufzugreifen – gebraucht werden wie Manna auf dem Wege. Der flinke Kiesel Davids, frech wie er einst war, er eignet sich nicht als Eckstein von Palästen, aber er hatte seine Qualität und seine eigene Würde: er half schlicht leben. Lieder, die ein wenig sind wie dieser Kiesel, Stolpersteinchen auf dem Weg, aufhebbar, einsetzbar „auf Zeit“ brauchen wir und hier ist von den Kreativen aus der Szene des NGL einiges zu erhoffen.

Peter Hahnen

Referenzen

http://mymev.de/ngl/hahnen.php – mehr zu Peter Hahnen
http://ngl-deutschland.de/ – Das NGL-Portal des afj