Magazinarchiv: 2001

Alle Jahre früher oder:

die Eskalation der Besinnlichkeit

Montag, 6. Oktober:

Schönster Altweibersommer. Noch einmal Menschen in T-Shirt und Sandalen in den Straßencafes und Biergärten. Bisher keine besonderen Vorkommnisse in der Schlossstrasse.
Dann plötzlich um 10:47 Uhr kommt der Befehl von Aldi-Geschäftsführer Erich B.: „5 Paletten Lebkuchen und Spekulatius in den Eingangsbereich! ‚
Von nun an überschlagen sich die Ereignisse. Zunächst reagiert Minimal-Geschäftsführer Martin 0. eher halbherzig mit einem erweiterten Kerzen-Sortiment und Marzipankartoffeln an der Kasse.
15:07 Uhr: Edeka Marktleiter Wilhelm T. hat die Mittagspause genutzt und operiert mit Lametta und Tannengrün in der Wurstauslage.
16:02 Uhr: Die Filialen von Penny und Reichert bekommen Kenntnis von der Offensive, können aber aufgrund von Lieferschwierigkeiten nicht gegenhalten und fordern ein Weihnachts-Stilstands-Abtkommen bis zum 10. Oktober. Die Gespräche bleiben ohne Ergebnis.

Dienstag, 7. Oktober:

07:30 Uhr: Im Eingangsbereich von Karstadt bezieht überraschend ein Esel mit Rentierschlitten Stellung, während 2 Weihnachtsmänner vom studentischen Nikolausdienst vorbeihastende Schulkinder zu ihren Weihnachtswünschen verhören.
Zeitgleich erstrahlt die Kaufhausfassade im gleißenden Schein von 260.000 Elektrokerzen. Die geschockte Konkurrenz kann zunächst nur ohnmächtig zuschauen. Immerhin haben jetzt auch Wertheim, Bolle und Minimal den Ernst der Lage erkannt.

Mittwoch, 8. Oktober:

09:00 Uhr: Edeka setzt Krippenfiguren ins Gemüse.
09:12 Uhr: Minimal kontert mit massivem Einsatz von Rauschgoldengeln im Tiefkühlregal.
10:05 Uhr: Bei Reichelt verirren sich dutzende Kunden in einem Wald von Weihnachtsbäumen.
12:00 Uhr: Neue Dienstanweisung bei Bolle: An der Käsetheke wird mit sofortiger Wirkung ein „Frohes Fest‘ gewünscht. Die Schlemmerabteilung von Wertheim kündigt für ‚den Nachmittag Vergeltungsmassnahmen an.

Donnerstag, 9. Oktober:

07:00 Uhr Karstadt schaufelt Kunstschnee in die Schaufenster.
08:00 Uhr: In einer eilig einberufenen Krisenversammlung tattert, forderte der aufgebrachte Geschäftsführer Walter T. von seinen Mitarbeitern lautstark: „Weihnachten bis zum Äußersten‘ und verrügt den pausenlosen Einsatz der von der Konkurrenz gefürchteten CD: „Weihnachten mit Mirielle Matthieu‘ über Deckenlautsprecher. Der Nachmittag bleibt ansonsten ruhig.

Freitag, 10. Oktober:

08:00 Uhr: Anwohner der Schlossstrasse versuchen mit Hilfe einer einstweiligen Verfügung die nun von Wertheim angedrohte Musikoffensive „Heiligabend mit den Flippers‘ zu stoppen.
09:14 Uhr: Ein Aldi-Sattelschlepper mit Pfeffernüssen rammt den Posaunenchor „Adveniat‘, der gerade vor Karstadt zum großen Weihnachtsoratorium ansetzen wollte.
09:30 Uhr: Aldi dementiert. Es habe sich bei der Ladung nicht um Pfeffernüsse, sondern Christbaumkugeln gehandelt.
18:00 Uhr: In der Stadt kommt es kurzfristig zu ersten Engpässen in der Stromversorgung als der von Tengelmann beauftragte Rentner Erwin Z. mit seinem Flak-Scheinwerfer Marke „Varta Volkssturm‘ den Stern von Bethlehem an den Himmel zeichnet.

Sonnabend, 11. Oktober:

Die Fronten verhärten sich; die Strategien werden zunehmend aggressiver.
10:37 Uhr: Auf einem Polizeirevier meldet sich die Diabetikerin Anna K. und gibt zu Protokoll, sie sei soeben auf dem Bolle-Parkplatz zum Verzehr von Glühwein und Christstollen gezwungen worden. Die Beamten sind ratlos.
12:00 Uhr: Seit gut einer halben Stunde beschießen Karstadt, Edeka und Minimal die Einkaufszone mit Schneekanonen. Das Ordnungsamt mahnt die Räum- und Streupflicht an. Umsonst!
14:30 Uhr: Teile des Stadtbezirks sind unpassierbar. Eine Hubschrauberstaffel des Bundesgrenzschutzes beginnt mit der Bergung von Eingeschlossenen. Menschen wie Du und ich, die nur mal in der schönen Herbstsonne bummeln wollten.

Na dann: frohe Weihnachten 2001!


Erscheinungs-Informationen

Magazin-Ausgabe: Licht im Dunkel auf Seite 6

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