Wenn ich gefragt werde, wie ein Lied entsteht, kann ich erzählen von der Suche nach Worten und Tönen. Ich kann berichten vom Ringen um eine endgültige Textformulierung oder Melodie.
Eines bleibt unerklärlich:
der Kern eines Liedes, die Eingebung oder Intuition, die man nicht lehren oder lernen kann. Sie ist nicht zu planen, sie lässt sich nicht herausfordern.
Zuerst ist also ein Kernthema und ein Kernsatz da. Von da gehen Gedankenketten aus, die entweder von einer textlichen Vorlage oder von einem Erlebnis gelenkt werden. Daraus entsteht als Struktur ein ungereimter Text.
Aus diesem ist dann schon erkennbar, ob es ein Lied mit einem Refrain, ein Lied nur mit Strophen oder ein durchkomponiertes Lied, dessen Teile sich nicht gleichen, werden kann.
Das Ausformulierung ist dann mitunter eine langwierige Arbeit, bei der jedes Wort dreimal umgedreht werden kann, bis der Liedtext steht, in dem die verwendeten Bilder 100% stimmen.
Die musikalische Verarbeitung ist dann wieder ein sehr kreativer Prozeß. Da sind die Liedermacher vermutlich sehr unterschiedlich und es gibt die
verschiedensten Möglichkeiten.
Das Kompositionsprinzip was aber den meisten meiner Liedern zugrundeliegt ist die rhythmische Führung der normalen Sprache. Wobei ich feststelle, dass meine Sprache in Melodie und Rhythmus durchaus
rheinisch geprägt sind. Durch das bewußte Setzen von Betonungen verändert sich der Rhythmus.
Ich bin jetzt als Liedermacher, also als Texter und Komponist, glücklicherweise in der Lage schon im Entstehungsprozeß eines Liedes direkten Einfluß auf die rhythmische Gestalt des Textes zu nehmen.
Wenn ein fertiger Text vertont wird ist, das meist nicht mehr möglich. Manchmal sagt jemand zu mir, meine Lieder seien rhythmisch zu kompliziert.
Sind sie aber nicht. Sie sind bloß die Kombination von RAP und GESANG. Wer das kapiert hat, der braucht nicht mehr groß nach dem Rhythmus der aufgeschriebenen Noten zu sehen. Er entschlüsselt höchstens noch Feinheiten der Betonungen.
Eine klare Antwort auf die oft gestellte Frage: ‚Was ist zuerst da: Musik oder Text?‘ scheitert in meinem Fall daran, dass Sprache und Musik so eng zusammenhängen, dass beides möglich ist. Sicher ist die Sprache in meinen Liedern explizit das führende Element und auch meist der Teil, der erst entsteht.
Dennoch ist es möglich, dass mir eine musikalische Floskel in den Sinn kommt, auf die durch ihre Melodie, ihren Rhythmus und durch die momentane Lebenssituation nur ganz bestimmte Worte passen. Aus einem so entstandenen Kernsatz mit dem dazugehörigen musikalischen Kernthema kann ein neues Lied entstehen. Kann. Oft genug verschwinden die Worte auch wieder.
Wenn nicht, dann bilden sich vom Kernsatz ausgehend Assoziationsketten. Weil die Sprache nur eine Krücke ist, kommen Bilder dazu. Ich schreibe nichts auf. Nur wenn die Worte und Bilder bestehen bleiben oder wiederkommen, sind sie gut. Ein Text lässt sich nicht erzwingen. Erst wenn klar ist, dass ein Lied entstehen wird, kommen die Planungen, welche Liedform es haben soll, wo der Kernsatz auftaucht, in welcher Tonart es stehen wird und ähnlich formale Überlegungen.
Dann beginnt die Arbeit des Dichters und des Komponisten bis zur einstimmigen Fassung in einem kleinen Noten-Notizheftchen.
Darin steht die Substanz der Lieder und ich lasse es los.
Von nun an muss das Lied allein bestehen können, hinterfragt werden dürfen, ohne mich oder mit mir. Danach kommt noch das Arrangieren, also die Wahl der musikalischen Mittel, um es zum Klang zu bringen, samt dem dazugehörigen Notensatz.
Gregor Linßen
*1966
Dipl. Toningenieur (FH & Robert-Schumann-Hochschule/
Düsseldorf), Instrumentalfach Querflöte, Chorleitung
lebt und arbeitet als Komponist, Texter und freier Tonmeister
Eigenes Studio und Verlag (EDITION GL) in Neuss Referent für Neues Geistliches Lied (NGL) bei Chorwochenenden und kirchenmusikalischen Werkwochen in ganz Deutschland
Musikalischer Leiter für diözesane Großprojekte und internationale Wallfahrten
Mehr Infos zur Arbeit und Veröffentlichungen von Gregor Linßen unter: http://www.edition-gl.de