Magazinarchiv: 2007

Eine Himmelsleiter aufstellen.

Das Gebet im Lied


Was kann Musik, was können Lieder unter pädagogischen Gesichtspunkten „leisten“?
Wozu sind sie gut? Was können sie positiv bewirken?

Eine Himmelsleiter aufstellen.
Musikpädagogische Erfahrungen von Wilfried Röhrig

Was kann Musik, was können Lieder unter pädagogischen Gesichtspunkten „leisten“? Wozu sind sie gut? Was können sie positiv bewirken? Ich möchte drei Wirkungs-Wege, drei Erfahrungsfelder von Musik und Liedern skizzieren, die mir wichtig erscheinen.
Sie sind genommen aus meinen Lebensbereichen Familie, Schule (= Beruf) und Kirche.
Mit Liedern das Leben und den Glauben erschließen Während ich diese Zeilen schreibe, sitze ich in der warmen Stube, besser gesagt in meinem Arbeitszimmer. Draußen ist es merklich kühler geworden und schon längst dunkel. Gestern beim Joggen lagen die ersten Nebelschwaden auf den Wiesen und das Laub der Bäume zeigte schon eine bunte Vielfalt an Farben.
Wir haben heute Nachmittag als Familie meine Mutter im Krankenhaus besucht. Wie lange sie noch unter uns weilen wird, wissen wir nicht.
So ist für mich und für uns das Abschied-Nehmen der Natur von der warmen Sommerzeit zugleich ein Spiegelbild von Vorgängen, die uns seit geraumer Zeit innerlich bewegen: die Begleitung der eigenen Eltern bzw. Großeltern im Alter, ihre Hilfsbedürftigkeit, ihr Altwerden und Zugehen auf den Tod.
Schon vor etwas mehr als zehn Jahren habe ich ein Lied geschrieben, das uns jetzt wieder sehr nahe steht. Obwohl für Kinder geschrieben, kann es uns allen, Erwachsenen und Kindern, helfen, das Abschied-Nehmen, das Loslassen als wichtigen Teil unseres Lebens und Glaubens dankbar anzunehmen.

Abschied nehmen

Wenn im Herbst die Blätter fallen,
wenn die Schwalben südwärts ziehn,
Schmetterlinge nicht mehr fliegen
und die Blumen nicht mehr blühn,
wenn die Grillen nicht mehr singen,
wenn die Sonne matt und leer,
übers Feld die Nebel ziehen
und der Wind weht kalt und schwer,
ist die Zeit gekommen für dich und mich,
den Sommer loszulassen;
heißt es Abschied nehmen und vorwärts schaun,
den Winter kommen lassen.
Wenn wir dicke Mützen tragen,
unser Atem Spuren zieht,
wenn schon früh die Lichter brennen
und jeder schnell ins Warme flieht,
wenn wir gerne drinnen spielen
und durchs Fenster Sterne sehn,
Bücher lesen, Lieder singen
und im Traum auf Reisen gehn,
ist die Zeit gekommen für dich und mich,
das Laute loszulassen;
heißt es Ruhe finden und Nähe spürn,
Gemeinschaft wachsen lassen.
Wenn uns Kleider nicht mehr passen,
wenn ein Zahn verloren geht,
wenn wir neue Lehrer kriegen,
wenn ein Freund uns nicht mehr versteht,
wenn Bekannte ganz weit wegziehn,
wenn ein Kind den Papa verliert,
unsre Oma ganz schwer krank wird,
wenn ein Vogel plötzlich stirbt,
ist die Zeit gekommen für dich und mich,
Vergangnes loszulassen;
heißt es Trauer fühlen und weiter gehn,
die Hoffnung keimen lassen.

T u. M: Wilfried Röhrig
Aus: CD „Willkommen hier in meinem Haus“ 1994 /97
Rechte: rigma Musikverlag, Viernheim; http://www.rigma.de

Die erste musikpädagogische Erkenntnis ließe sich etwa so umschreiben:
Immer, wenn wir uns in Liedern wiederfinden, in ihrer Atmosphäre, in ihren Tönen, Melodien und Rhythmen, in ihren Inhalten und Worten, sind sie für uns so etwas wie gute Freunde, bei denen wir uns angenommen und verstanden wissen. Sie geben unseren Gedanken und Gefühlen ein Zuhause. Sie sind unsere Begleiter in den vielfältigen Widerfahrnissen unseres Lebens.
Zudem: Mit unserem Glauben verbunden nehmen sie uns „an die Hand“ – hin zu Gott.
Zwei Folgerungen und Impulse ergeben sich daraus:
Wir sollten sensibel werden oder bleiben für jedes Lied, für jede Musik, die unseren Erfahrungen, unseren Fragen, unseren Ängsten und Hoffnungen ein Zuhause bietet.
Alle in pädagogischer Verantwortung Stehenden sollten entsprechendes Lied-Gut pflegen, damit wuchern“ und „arbeiten“ in allen sich bietenden
Feldern im Sinne einer Lebens- und Glaubenshilfe in Familie, Schule, Kindergarten, Gemeinde und im kirchlichen Gemeinschaftsleben.
Den Glauben und das Leben tanzen
Würzburg, 7. Oktober 2006, Burkardus-Haus. Fortbildung unter dem Titel: „Dir will ich singen, spielen, tanzen. Frech-fromme Songs für kleine Leute.“
Mein Part als Referent besteht darin, die vielfältigen Chancen und Möglichkeiten religiöser Kinderlieder in Katechese, Unterricht und Erziehung zu beleuchten.
Ergänzend bringen Judith Öchsner und Birgit Pfeifer, die bereits seit Jahren intensiv in der Diözese Würzburg im Bereich religiöser Kinderlieder arbeiten, zu einigen meiner Lieder Tänze ein. Ich selbst bin gespannt, was da kommt, ob und wie es gelingt, die Botschaft(en) von Liedern in Schritte, Bewegungen und Gesten umzusetzen. Und siehe da: es geht!
Was mich vor allem berührt und überzeugt, ist mein unmittelbares Erleben beim Mit-Tanzen, beim Mit-Gehen. Da macht es schon einen Unterschied, ob ich den Refrain des Weihnachtsliedes „Seid alle froh“ nur singe oder ob diese Freude auch meine Hände und Füße ergreift! Da macht es schon einen Unterschied, ob wir „Gott macht sich ganz klein“ nur als Kanon singen oder ob dieses „Sich-in-unsere-Hand- Geben“ Gottes auch mit unseren Händen gefühlt und „be-griffen“ wird!

Gott macht sich ganz klein

Gott macht sich ganz klein,
Gott will bei uns sein,
gibt sich in unsre Hand,
knüpft das Liebesband,
dass Himmel, Himmel und Erde
ineinander ruhn.

T u. M: Wilfried Röhrig
Aus: „Licht-Blicke“, 2003
Rechte: rigma Musikverlag, Viernheim. http://www.rigma.de

Mein zweites musikpädagogisches Fazit ließe sich so benennen: Lieder zu tanzen ist mehr als nur eine Modeerscheinung oder nette Abwechslung. Die Lieder und das, was sie als textlich-musikalische Botschaft in sich tragen, werden durch die Tanzschritte und Gesten „leibhaftig“.
Gewiss: Tanzen ist nicht jedes Menschen, vor allem nicht jeden Mannes Sache. Doch mir legt sich der Verdacht nahe, dass man(n) sich mit der Ablehnung des Tanzens auch die in die Lieder hinein gewobenen Erfahrungen, Inhalte und Gefühle „vom Leib halten“ will.
Und um einen zweiten Verdacht nachzuschieben:
Könnte das nicht auch eine Erklärung sein für die immer wieder wahrgenommene Ablehnung von „leibhaftigen“ Formen des Mitfeierns des Gottesdienstes?
Was die Unbefangenheit im Tanzen angeht, können wir Großen von den Kleinen lernen. Das belegen die vielen positiven Erfahrungen in Schule, Kindergarten, Kinder- und Familiengottesdiensten.

Leben „auf die Bühne“ bringen
Mittwoch, 12. Juli 2006, 19.30 Uhr, Aula der Albertus-Magnus-Schule in Viernheim. Aufführung des Singspiels „Jenseits der Grashalme“: Alberto, der kleine Frosch, lebt mit seinem Onkel Paul auf der Grashalmwiese im Grashalmland. Während seine Freunde überall Streiche aushecken und Froschparties feiern, ist Alberto, der kleine Froschaugenphilosoph, mit der Lösung eines Rätsels beschäftigt: Seine Oma hat ihm nämlich ein sehr wertvolles Buch vererbt – mit lauter leeren Seiten. Was hat es damit auf sich?
Das Besondere an diesem Stück und an der Aufführung ist nicht nur der Inhalt, sondern die Art der Vorbereitung und Präsentation: Es ist ein Großprojekt mit rund hundert Schülerinnen und Schülern in vier Projektgruppen: Theater, Musik, Chor und Jazztanz. An drei Projekttagen wird intensiv an dem Stück gearbeitet, wird geprobt, verbessert und gefeilt, bis sich schließlich, am Abend der Aufführung, die vier großen Teile ineinander fügen zu einem großen, bunten und lebendigen Ganzen.

Ein Fragebuch

…Wieso gibt es dich und wieso gibt es mich?
Wieso bist du anders, ganz anders als ich?
Wieso hat ein jeder seine eigene Sicht?
Sind wir geliebt?
Wohin geht die Reise, wenn der Vorhang fällt?
Gibt es wirklich eine andere Welt,
die uns umgibt?
Unsre Welt: kugelrund,
unsre Welt: kunterbunt,
unsre Welt: ein Fragebuch
mit unendlich vielen Seiten.

T u. M: Wilfried Röhrig
Aus: „Jenseits der Grashalme“, 2006
Rechte: Felsenfest Musikverlag, Wesel / Patris Verlag, Vallendar

Meine dritte musikpädagogische Erfahrung: Größere Musikprojekte wie die Aufführung eines Singspiels können als wichtiges Element das Leben einer Schulgemeinschaft prägen. Das gilt in mehrfacher Hinsicht:
Auf der inhaltlichen Seite können bestimmte Themen auf der „Schulbühne“ ins Licht gerückt werden, wie zum Beispiel die Auseinandersetzung mit dem Schulpatron, der in die heutige Zeit und in die Welt von Fünft- und Sechstklässlern „versetzt“ wird.
Die beteiligten Kinder und Lehrer lernen, aufeinander einzugehen, sich abzusprechen, Rücksicht zu nehmen, sich zu konzentrieren auf das gemeinsame Ziel: eine gelungene Aufführung.
Die beteiligten Kinder und Lehrer haben eine gute Möglichkeit, ihre Talente und Fähigkeiten einzubringen und „auszuprobieren“: als Schauspieler, als Sängerinnen und Sänger, im Tanzen, in der Musik.
Nicht zuletzt ist es ein tolles Gefühl, auf der Bühne zu stehen und den Applaus des Publikums zu genießen.

„Musik ist nicht der Himmel, aber sie stellt eine Himmelsleiter auf.“ (Verfasser unbekannt)

http://www.wilfried-roehrig.de

Wilfried Röhrig
ist Lehrer an der Albertus-Magnus-Schule in Viernheim,
Texter und Komponist von Neuen Geistlichen Liedern und Singspielen,
verheiratet, fünf Kinder,
Mitglied im AK Kontrapunkt.
NGL in der Diözese Mainz.


Erscheinungs-Informationen

Magazin-Ausgabe: Das Gebet im Lied auf Seite 12

Sofern nicht anders vermerkt: © Musica e Vita e.V.