Magazinarchiv: 2000

Himmlischer Lärm um höllische Lieder

Titelthema

Der oberste Glaubenshüter Kardinal Josef Ratzinger macht eigentlich regelmäßig Aussagen, die sich gegen popularmusikalische Elemente in der Liturgie beziehen. Vor Jahren las ich in meinem Sonntagsblatt, vielleicht etwas verkürzt und hier sinngemäß wiedergegeben, dass Ratzinger sich gegen Rockmusik in der Kirche aussprach, weil in ihr satanische Elemente vorkommen. In einem Leserbrief nahm ich seinen Impuls auf und erklärte die Musik der Kelly-Family für himmlisch, weil sie von Engeln singen.

Wie kommt der oberste Glaubenshüter zu dieser Einschätzung von Rockmusik?
Darüber kann ich nur spekulieren, aber dieses Spekulieren kann ich zum Anlass nehmen, auf bestimmte Denkmuster hinzuweisen, die auch bei den obersten Glaubenshüter vor Ort in den Pfarreien vorkommen.

Musikalische Vorlieben

Zunächst einmal könnte Ratzingers ablehnende Haltung aus der Biografie stammen. Wir wissen, dass besonders in der Pubertät die musikalischen Vorlieben sich verfestigen. Wer mit 16 kein Interesse an Santana hat, wird es mit großer Wahrscheinlichkeit auch nicht mit 60 haben. Herr Ratzinger hat offensichtlich keinen Zugang zur Rockmusik erfahren, er hat dieses „Unter die Haut gehen“ wohl nicht erfahren, oder aber sogar als bedrohlich empfunden. Das muss man ihm lassen. Und wenn er einfach sagen würde: „Rockmusik gefällt mir nicht“ oder „Rockmusik macht mir Angst“ wäre für uns alle die Sache nachvollziehbar.
Kann Rockmusik Angst machen?

Ja. Rockmusik kam ja ganz groß raus im Zusammenhang der Aufbruchbewegungen der späten 60er und der 70er Jahre. Rockmusik war nicht nur Musik, sie war auch Protest, Aufruhr, Aggression gegen die behäbige und von Doppelmoral geprägte Bürgerlichkeit. Die Herausgeforderten werden verunsichert und reagieren mit Verlustängsten. Das sprechendste Beispiel für das Angriffspotential der Rockmusik ist das Gitarrensolo von Jimmy Hendrix über die amerikanische Nationalhymne in Woodstock. Die Gitarrenklänge werden immer infernalischer, grausamer, zerstörerischer bis die Bewegung zusammenbricht und in ein klageschreiendes Jaulen übergeht. Hier musiziert nicht die Lust am Zerstörerischen, sondern hier malt Hendrix mit Hilfe seiner Gitarre die Grausamkeit und Sinnlosigkeit des amerikanischen Vietnamfeldzuges. Auf Ratzingers Musikthesen gewendet: Herr Ratzinger hat recht: die Rockmusik transportiert satanische Elemente. Bei Jimmy Hendrix ist das Satanische der Vietnamkrieg, den er illustriert. Und hier kann man auch noch einmal die Doppelbödigkeit der Gesellschaft in Gestalt ihrer Rockmusikkritiker entlarven: Diese können sich mehr an der künstlerischen Darstellung des Kriegsgeschehens stören, als am Kriegsgeschehen selbst.

Rockmusik als Sprache …

Rockmusik kann Angst machen. Gerade weil sie aus dem Bereich „unter die Haut“ kommt, wird sie oft auch als Kommunikationsmittel, als Ausdrucksmittel, als Sprache verwendet von denen, die sich schwer tun über ihre Ängste, über ihre Bedrohungen, ihren Verliererstatus zu reden, sich sprachlich Luft zu machen. Manche sprechen lieber durch oder mit ihrer Rockmusik als mit wohlüberlegten Sätzen. Und dass ihre Angst laut ist und schmerzhaft und aggressiv, das muss nicht wundern. (In anderen Zeiten war es die Marschmusik.)
Und das machen sich findige Geschäftsleute zu Nutze und bauen um Rockmusik Kulte, in denen die Ängste, die Aggressionen gepflegt, mit dunklen und abstoßenden Bildern geheiligt werden. In der Fortschreibung des Heavy Metal, überbieten sich die unabhängigen Labelgruppen „Indie“ mit Geschmacklosigkeiten. Diese Ausprägung der Rockmusik ist aber eher ein Fall für den Psychologen und den Sozialarbeiter als für den Glaubenshüter.

… dreht am Bewußtsein

Rockmusik wirkt nicht rational. Sie hat für manche etwas Mystisches, sie dreht am Bewußtsein. Und das, glaube ich, können die meisten auch nachempfinden. Deshalb vielleicht hielt sich auch so lange dieser dämliche Mythos, dass es Schallplatten gäbe, die, wenn man sie rückwärts laufen ließe, satanische Botschaften, wenn nicht sogar die Stimme des Teufels enthielten. Dieser Quatsch mit Soße macht nur Sinn, wenn jemand bei der Sendung mit der Maus nicht aufgepasst hat: Schallplatten laufen nicht rückwärts. Zweitens: warum sollte der Teufel ins Studio gehen und Schallplatten machen? Drittens: wenn er es doch täte, warum spricht er rückwärts? Beziehungsweise, warum muss man sich erst Plattenspieler und Tonband organisieren, um den Teufel verstehen zu sollen? Dieser Mythos dient den einen, um die anderen zu disqualifizieren, die damit ihr Geld machen können. Er sagt also weniger über die Symbiose von Musik und Teufel aus, als über die Symbiose von nützlichen Idioten und Geschäftemachern.

Der Kontext macht’s …

Rockmusik wirkt nicht rational. Nur: die Richtung der mystischen Bewegung ist nicht festgelegt. Man hört sich nur einmal die Habakuk-CD „Sturm kommt auf“ an, wo mit Hilfe von Rockmusik Psalmen illustriert werden und eine ungeheure Tiefe dabei erschließen. Es ist deshalb meiner Meinung nach der Kontext, der Rockmusik letztlich prägt. Rockmusik verbindet sich genauso gut mit der Angst der Sprachlosen als auch mit dem Bedürfnis des Geplagten sich vor Gott zu stellen. Und dass Rockmusik auch erotisch empfunden wird, das behalt ich für mich…. Und vielleicht kann das MeV-Magazin auch mal von den Heerscharen christlicher Rockmusiker (White metal) und ihren mystischen Erfahrungen berichten.
Wenn Herr Ratzinger Rockmusik „dämonisiert“ dann legt er sie fest auf eine Benutzerschiene, die natürlich dankbar ist, von der Kirche bekämpft zu werden. Er hält ihr Weltbild am Leben, anstatt den dahinter stehenden Ängsten und Bedrohungen eine frohe Botschaft entgegenzusetzen.
Und so kann man an Ratzinger lernen: nicht überall wo Kirche draufsteht, ist Evangelium drin – und umgekehrt gilt auch: nicht überall wo Teufel draufsteht, ist Teufel drin.

… – nicht die Partitur

Andere ähnliche Äußerungen gegen neuere Kirchenmusik tun so, als ob es möglich wäre, anhand von Partituren festlegen zu können, was geistlich ist und was nicht. Aber was ist an einer Bach-Fuge geistlich? Ist es die Konstellation von Noten oder der Kontext, der ein Werk sprechen lässt? Und wer legt die Konstellation der Noten fest, die geistlich sein sollen? Die Geistlichen oder die Musiker? Und wer legt fest die Konstellation der Noten, die nicht geistlich sein sollen? Die Laien oder die schlechten Musiker? Oder doch die Geistlichen? Aber die sind doch zuständig fürs Geistliche… Und dieses Spiel geht gerade so fröhlich weiter: Welches Instrument ist geistlich? Passt ein Schlagzeug in die Kirche? Die neueste Stilblüte ist der Streit um Orgamaten. Eine Art Orgelroboter, der auf eine bestehende Orgel aufgesetzt werden kann und fehlende Organisten ersetzt. Er wird von den Kirchenmusikämtern (mit Ausnahmen) abgelehnt, weil ein Automat keine liturgische Person ersetzen kann. Der Ertrag dieser Diskussion ist aber ein sehr produktiver: Der Organist wird jetzt als liturgische Person eingeführt. Das ist gut, denn das hat auch Bedeutung für alle Personen, die Neues Geistliches Lied machen.

Der Ertrag der Auseinandersetzung …

… mit Ratzinger ist, dass wir noch bewusster wahrnehmen, dass Rockmusik genau von ihrem Kontext qualifiziert ist wie auch die Kirchenmusik. Kirchenmusik kann ich nicht sehen als Musik aus geistlich-kompositorischen-stilistischen Merkmalen und Regeln, sondern sie beschreibt eine musikalische Praxis im Kontext von Kirche. Die Art der Verwendung bestimmt, ob eine Musik eine kirchenmusikalische ist oder nicht. Und genauso ist es bei Rock. Alles andere ist zu hoch gegriffen. Und zu den rührenden Berichten darüber, dass man gute Erfahrungen mit Gregorianik bei Kindern machen kann, möchte ich anmerken:

Man kann überhaupt gute Erfahrungen mit Kindern machen …

Und man kann mit Kindern große Überraschungen erleben …
Und man kann Kindern ein Schild um den Hals hängen mit der Aufschrift: „Ich bin gegen Kernkraft“ …

Ich selbst war übrigens mit 16 ein Stockhausen-Fan, schmachtete bei Strawinsky, zerfloss bei Bergs Violinkonzert – und jetzt mache ich Neues Geistliches Lied – was folgt daraus für meine Generation?