Magazinarchiv: 2007

Klänge und Töne des Geistes

Reflexion

Gedanken und Erfahrungen von Franz Josef Tremer

Klänge und Töne des Geistes

1. Gott begegnen in der Musik

‚Gott ist wie … Musik‘. Diese Formulierung im Stil einer Metaphermeditation spricht meine eigene Erfahrung mit der Musik – und sicher auch die anderer – gut und deutlich aus. Für mich ist das Gitarre- und Klavierspiel oder das Singen – auch wenn es nicht künstlerisch vollendet ist – wie ein Gebet. Es hebt den Menschen in eine andere Sphäre; es lässt ihn alles andere um sich herum vergessen und nur noch in Klang, Rhythmus und Gesang leben. Im instrumentalen Begleiten des eigenen Gesangs wird das Gebet noch leiblicher, es wird zu einem Tanz auf den Tasten, zu einem zärtlichen Streicheln der Saiten.
Der Rhythmus, vor allem der jazzige Beat, lässt den ganzen Körper mitgehen. Eine unbändige Freude strömt ins Herz, und man möchte mit John Miles singen: „Music was my first love, and it will be my last, music is the future and music was the past.“
Als ich als Zwölfjähriger mein erstes Liederbuch für die Gitarre bekam, konnte ich in der darauffolgenden Nacht nicht schlafen; am liebsten hätte ich den ‚Bettelmusikant‘, so hieß das Liederbuch, hervorgeholt und auf der Gitarre die einfachsten Lieder geübt. Aber erst am nächsten Morgen, nach der Schule, durfte ich die Noten hervorholen und üben.

Als ich dann später Jazz und Gospel kennenlernte, vor allem deren für mich faszinierende Rhythmik und Harmonik, war es wieder eine kleine Erfahrung und Harmonik, war es wieder eine kleine Erfahrung Gottes.
Wenn ich zurückschaue, dann merke ich, dass fast jede meiner tieferen geistlichen Erfahrungen bei Exerzitien, Jugendtreffen oder sonstigen Ereignissen durch ein Lied ausgelöst, unterstützt oder verarbeitet wurde. Für mich waren das unter anderem das Gloria aus der Gen Rosso-Messe, ‚Gott lädt uns ein zu seinem Fest‘ (Manfred Siebald), ‚Do not be afraid‘ oder ‚Amazing grace‘. Hier sieht man, wie sich der Grundsatz des Augustinus bewahrheitet, dass doppelt betet, wer singend betet.

Die Musik ist eine eigene Form von Spiritualität und Gotteserfahrung. Sie ist ein Werk des Heiligen Geistes. Man kann hier an Lieder denken wie ‚Preis dem Todesüberwinder‘ oder ‚Ich steh vor dir mit leeren Händen, Herr‘. Auch die vielbelächelte, weil aus der Romantik stammende ‚Deutsche Messe‘ von Franz Schubert hat für viele Menschen einen großen, spirituellen Wert.
Umgekehrt merkt man bei manchen, die im Stil vermeintlich aufgeklärten Christseins diese sehr emotionalen älteren Lieder zusammen mit vielen gefühlsschweren Marienliedern ablehnen, dass sie dann eben auf jüngere, emotionsgeladene Lieder ansprechen. Es gibt auch gefühlsschwere Neue Geistliche Lieder.

2. Musik im Leben

Die Musik hat aber nicht nur eine Bedeutung für die Beziehung zur jenseitigen Wirklichkeit. Sie hat auch eine Beziehung zur diesseitigen Wirklichkeit, zum Leben des Musizierenden. So geht die Jazzmusik durch Leib und Seele, sie ist ganzheitlich. Durch den Beat, den Grundschlag, und durch einen differenzierten Rhythmus kommt Bewegung und Dynamik, kommt Leben in die Musik. Es ist kein Wunder, dass bei dieser Musik auch Ekstasen möglich sind, wie es aus den Gottesdiensten schwarzer Amerikaner bekannt ist.
Im geistlichen Jazz, den Spirituals und Gospels, werden die Lebensprobleme und die Leiden der versklavten Neger verarbeitet. Da bringt das Singen von ‚Nobody knows the trouble I‘ve seen‘ oder ‚Were you there when they crucified my Lord?‘ Befreiung. Im Singen bekommt der Mensch Kraft zum Durchschreiten des ‚Deep river‘ oder zum Ertragen des Kreuzes.
Man kann den spiritual Jazz sogar als eine Form christlicher Existenzphilosophie bezeichnen, eine Überwindung oder Verarbeitung existentieller Probleme im christlichen Glauben.

Das eben Gesagte wird am besten durch Worte Martin Luther Kings illustriert, die seiner Grußbotschaft an die ersten Berliner Jazztage 1964 entnommen sind:
„Gott hat viele Dinge aus der Unterdrückunggewrungen. Er hat seinen Kreaturen die Fähigkeit, schöpferisch zu werden, gegeben. Aus dieser Fähigkeit sind die Lieder der Sorge und der Freude geflossen, die es dem Menschen möglich machen, mit dem, was um ihn herum und was mit ihm geschieht, fertig zu werden. Jazz spricht vom Leben. Die Blues erzählen die Geschichten von den Schwierigkeiten des Lebens.
Und wenn du einen Augenblick nachdenkst, dann wirst du finden, dass sie die härtesten Realitäten des Lebens nehmen und sie in Musik verwandeln, um daraus neue Hoffnung zu schaffen – und ein Gefühl des Triumphes. Jazz ist triumphierende Musik. Der moderne Jazz hat diese Tradition weiterentwickelt. Er singt die Lieder einer komplizierter gewordenen städtischen Existenz. Wenn das Leben keine Ordnung und keinen Sinn mehr bietet, dann schafft der Musiker Ordnung und Sinn aus den Klängen der Erde, die durch sein Instrument fließen. (…) Viel von der Kraft unserer Freiheitsbewegung in den Vereinigten Staaten kommt von dieser Musik. Sie hat uns Kraft gegeben mit ihren machtvollen Rhythmen, wenn uns der Mut verließ. Sie hat uns Ruhe gegeben mit ihren machtvollen Harmonien, wenn wir verzweifelt waren. (…) Und nun dringt Jazz in die ganze Welt. Denn im speziellen Kampf des amerikanischen Negers gibt es etwas, das dem universalenRingen des modernen Menschen verwandt ist. Jeder hat heute den Blues. Jeder sucht nach einem Sinn. Jeder braucht Liebe und will geliebt werden. Jeder will in seine Hände klatschen und glücklich sein. Jeder sehnt sich nach Glauben. In der Musik – und ganz besonders auf jenem weiten musikalischen Feld, das wir Jazz nennen – wird ein Schritt in Richtung auf alles dies getan.“ ¹

Das Leben ist mit der Musik verquickt, Musik und Leben sind ineinander. Alles Leid nimmt die Musik auf und verwandelt es. So hat der Jazz einen wesentlichen Bezug zum Leben, wie ihn jede Musik hat oder haben sollte.

Eine Strophe von Joseph von Eichendorff fasst dieses Verhältnis von Musik und Leben gut zusammen:
„Wohl vor lauter Sinnen, Singen
Kommen wir nicht recht zum Leben;
Wieder ohne rechtes Leben
Muss zu Ende gehn das Singen;
Ging zu Ende dann das Singen:
Mögen wir auch nicht länger leben!“ ²

3. Musik und Gemeinschaft

Im Roman ‚Das Glasperlenspiel‘ von Hermann Hesse wird der Musik eine wichtige Stellung ein- Hesse wird der Musik eine wichtige Stellung eingeräumt;
man kann fast sagen, die Musik ist das Glasperlenspiel.³ Josef Knecht, der Protagonist des Romans, muss eine musikalische Prüfung beim Glasperlenspielmeister machen. Zunächst spielt aber der Meister dem Prüfling etwas vor. Die Wirkung auf Knecht beschreibt Hesse so:
„Des Knaben Herz wallte von Verehrung, von Liebe für den Meister, und sein Ohr vernahm die Fuge, ihm schien, er höre heute zum erstenmal Musik, er ahnte hinter dem vor ihm stehenden Tonwerke den Geist, die beglückende Harmonie von Gesetz und Freiheit, von Dienen und Herrschen.“
Anschließend musizieren die beiden zusammen, und als der alte Meister aufsteht, blickt er Knecht freundlich an und sagt: „Nirgends können zwei Menschen leichter Freunde werden als beim Musizieren.
Das ist eine schöne Sache.“
Freund werden beim gemeinsamen Musizieren, Zusammenwachsen und Gemeinschaft werden durch die Musik, das ist eine wichtige Erkenntnis.
Musik hat eine gemeinschaftsbildende und gemeinschaftsfördernde Kraft. Es werden Menschen zusammengeführt und zusammengehalten. Beim Singen und Musizieren in der Gruppe werden Gemeinschaft und menschliches Zusammenleben eingeübt.
Der eine muss auf den anderen hören – ge-horchen -, damit ein geordneter Klang entsteht. Tempi, Tonart und Lautstärke müssen zusammenpassen – zusammenge-hören. Die Solisten müssen sich nach dem Tempo ihrer Rhythmusgruppe oder Begleitband richten; dafür müssen die Begleitmusiker ihre Lautstärke zurücknehmen zugunsten der Solisten. Es kann nicht jeder Solo spielen, sondern es muss immer jemand da sein, der den Klangteppich legt oder ausrollt, auf dem der Solist entlang schreiten kann.
Auch im menschlichen Leben kann nicht jeder immer die ‚erste Geige spielen‘. Da ist eine gehörige Portion Demut notwendig. Für eine Familie oder sonstige Gemeinschaft, wenn sie gelingen soll, ist Dienen und Herrschen lebenswichtig. Das gemeinsame Musizieren kann einer Gemeinschaft zusätzliche Stabilität verleihen.

In dem Spielfilm ‚Mission‘ gründet der Jesuitenpater Gabriel seine Indiogemeinde in Paraguay mit der Melodie einer Klarinette. Er sitzt im Urwald und spielt seelenruhig auf seinem Instrument; zuerst noch vorsichtig und misstrauisch, kommen immer mehr Indios, versammeln sich um ihn. Pater Gabriel lässt die Klarinette klingen, und die Eingeborenen lauschen.
Langsam legen sie das Misstrauen ab und nehmen den Missionar freundlich auf. Später singen die Eingeborenen sogar Bachchoräle, und ein Indiokind darf vor dem päpstlichen Nuntius singen. Der Erzähler im Film sagt: „Mit der Musik könnte ich ganz Lateinamerika missionieren!“

4. Fazit

All dies zusammenfassend, kann man sagen, dass Musik eine spirituelle, eine existentielle und eine soziale Wirkung hat. Musik dient also der umfassenden Menschwerdung des Menschen. Und hinter dieser Kraft und Dynamik der Musik – davon bin ich überzeugt – steht niemand anders als der Heilige Geist.

¹ Vgl. J. E. Berendt: Photo-Story des Jazz. – Frankfurt/Main: Krüger, 1978, 221
² J. v. Eichendorff: Wem Gott will rechte Gunst erweisen: Ausgew. Gedichte. – Zürich: Diogenes, 1984, 6
³ Vgl. H. Hesse: Das Glas-perlenspiel. – 19. Aufl. – Frankfurt/Main: Suhrkamp, 1984, 54.