Sich Gedanken machen über Kirchenräume lässt uns nachdenken über die Art und Weise, sich darin passend und geziemend zu bewegen. Vom Arbeitsausschuss des Evangelischen Kirchbautages
Nehmt eure Kirchen wahr!
Leipziger Erklärung, veröffentlicht nach dem 24. Evang. Kirchbautag am 6. Januar 2003
Nach dem 24. Evangelischen Kirchbautag (31.10.– 3.11.2002) in Leipzig mit dem Thema »Sehnsucht nach heiligen Räumen« wenden wir uns an die Landeskirchen und Kirchengemeinden in Deutschland:
Wir nehmen wahr, dass sich immer mehr Menschen nach »heiligen Räumen« sehnen: nach Rastplätzen für ihre Seele, nach Freiräumen für ihr Denken, nach Oasen für ihr Gebet sowie nach Feierorten für ihr Leben.
Wir erleben, dass Menschen unsere Kirchen in Situationen der Not, des Entsetzens und des Schreckens aufsuchen – ganz gleich, ob sie Kirchenmitglieder sind oder nicht.
Wir wissen, dass unsere Kirchengebäude hilfreiche Zeichen des Anderen in einer diesseitigen Welt und Wegweiser für Sinn in einer fragenden Welt sind.
Wir erfahren, dass in der sich verhärtenden Konkurrenz um Wirtschaftsräume auch die Räume unserer Städte immer enger werden, dass der öffentliche Raum zunehmend wirtschaftlichen Nutzen bringen muss und die Verdichtung der Stadträume auf Kosten der »Anderorte« und damit auch zu Lasten der Kirchen geht.
Wir erinnern daran, dass unsere Kirchengebäude »Seelen und Gedächtnis« der Dörfer und Städte sowie des Gemeinwesens sind, worin wir wurzeln. Als Gemeinden sind wir zwar Eigentümer und Nutzer unserer Kirchengebäude, diese sind aber auch unaufgebbares Kulturgut der Allgemeinheit. Deshalb ist immer wieder für eine gesamtgesellschaftliche Erbemitverantwortung zu werben und zu sensibilisieren.
Wir empfehlen, selbstbewusst und mutig die Chancen unserer sakralen Räume zu nutzen, mit diesem Pfund zu wuchern und die uns überkommenen Gebäude verlässlich zu erhalten, denn Kirchen sind Versammlungsorte der christlichen Gemeinden:
Mit ihren Glocken sagen sie eine andere Zeit an. Durch das, was in ihnen geschieht – Gottesdienste und Andachten, Hören und Beten, Loben und Klagen – werden sie erst zu »heiligen« Räumen. Hier versichern sich Menschen ihrer religiösen Identität, hier erfahren sie Begleitung in den Schwellensituationen ihres Lebens (Taufe, Hochzeit, Trauerfeier). Hier findet der Ausgegrenzte Asyl, hier kann die Erschöpfte aufatmen – in einem offenen, zweckfreien Raum.
KIRCHEN SIND SCHATZKAMMERN des christlichen Glaubens:
Ihre Mauern und Steine predigen, mit ihren Räumen sind sie ein Asyl für die letzten Dinge, ihre Altäre stiften Gemeinschaft, mit ihren Orgeln und Glocken loben sie Gott, mit ihren Kunstwerken legen sie Zeugnis ab und erzählen die Geschichte unserer Kultur, mit ihren Kerzen erinnern und mahnen sie, mit ihrem Schmuck danken sie für alle guten Gaben des Schöpfers. Lassen Sie uns unsere größten Schätze treu bewahren, sie bewusst wahrnehmen und ihre Botschaft vermitteln.
KIRCHEN SIND KRAFTORTE:
Sie bauen an unserer Innerlichkeit. Sie erbauen uns, sie reden mit uns, sie heilen uns. Sie sind Orte des Hörens und des Sehens. Kirchräume gehören allen. Darum müssen sie geöffnet und allen Menschen zugänglich sein. Lassen Sie uns alle Anstrengungen unternehmen, dass unsere Türen offen stehen. Wir kennen die Bedenken. Aber wir meinen, dass es für jede Gemeinde Wege gibt, diese Bedenken zu überwinden. Der Wert von Kirchen, die »offen für alle« (so das Motto der Nikolaikirche Leipzig) sind, ist größer als der Schaden, der eventuell eintreten könnte.
KIRCHEN SIND GESTALTETE RÄUME:
Ihre Ästhetik und Atmosphäre berührt uns Menschen. Die Gestaltung unserer Kirchräume darf nicht kurzweilig herrschendem Geschmack oder scheinbar unabwendbaren Erfordernissen zum Opfer fallen.
Der Erhalt der ursprünglichen, von der Liturgie bestimmten Gestaltungsintention bewahrt dem Gebäude seine Sprachgestalt. Bei Fragen der Gestaltung sollte immer das Gespräch mit Architekten und Architektinnen als den »Experten des Raums« gesucht werden.
KIRCHEN SIND FREIRÄUME:
Das Experiment darf hier zuhause sein. Das Wagen des Neuen, das Ausprobieren des Ungewohnten, das Versuchen der Grenzgängerei ist den »heiligen Räumen« nicht fremd, sondern eigen. Wir ermutigen deshalb, dem Dialog mit der Kunst die Türen zu öffnen mit Musik, bildenden Künsten, Literatur und anderen zeitgenössischen Mischformen des künstlerischen Ausdrucks. Wir regen an, als Fragende das Gespräch aus evangelischer Perspektive mit Künstlerinnen und Künstlern zu suchen.
Wo es allerdings um die bisweilen sicher auch nötigen veränderten Nutzungen der Kirchräume geht, erinnern wir daran, dass nicht jedes Experiment nützt und es zum Schaden aller gereicht, wenn unsere Räume Gegenstand einseitiger Schlagzeilen werden.
Es ist höchste Zeit für den Aufbruch. Lassen Sie uns gemeinsam die überkommenen und die verborgenen Schätze und Chancen unserer Kirchräume neu entdecken und zur Geltung bringen!
Berlin, den 6. Januar 2003
Arbeitsausschuss des Evangelischen Kirchbautages
gez. Helge Adolphsen
(Vorsitzender)