Magazinarchiv: 2004

Was ist ein NGL? Teil 2

Abgrenzungen des NGL. Oder: Kein Profil ohne Kanten


Anmerkungen zur Selbstvergewisserung
‚Denn eben wo Begriffe fehlen,
da stellt ein Wort zur
rechten Zeit sich ein.
Mit Worten lässt sich
trefflich streiten,
mit Worten ein System bereiten,
an Worte lässt sich
trefflich glauben …‘
Johann Wolfgang Goethe,
FAUST. Der Tragödie erster Teil

Das popularmusikalische Gewebe, das schon mal als >SacropopRhythmische LiederNeue Lieder< benannt wurde (und das ist nur eine kleine Auswahl aus der üppigen Nomenklatur) soll in diesem Teil einmal gelichtet werden. Das NGL wird sich dabei als eigenständige Gattung innerhalb der christlichen zeitgenössischen Popmusik erweisen. Das haben diverse wissenschaftliche Arbeiten gezeigt (u.a. Lübbers, Hahnen). Die 'Ränder' des Genres NGL sind indes nicht scharf, oft (und mittlerweile immer öfter) sind sie fließend. Wenn hier doch nach einem eigenen Profil des NGL gefragt wird, so kann nicht zuletzt das NGL selbst dadurch in seiner Eigenständigkeit erkannt und gewürdigt werden. Erstes Profilmerkmal:
Reproduzierbarkeit

Stichwort: musikalische Faktur

Anders als etwa ein im Konzertsaal solistisch vorgetragenes Kunstlied (à la Schubert, Schumann oder Henze) ist das NGL ein allgemeines und funktionsorientiertes Lied. Es ist gekennzeichnet durch Mitvollziehbarkeit im Gesang (mindestens der
Hauptstimme) und durch eine vergleichsweise leicht reproduzierbare Komposition und Instrumentierung.
Dabei ist es musikalisch derart gestaltet, dass eine Begleitung mit Gitarre durchaus ausreichen kann. Die Gitarre eignet sich durch das Spiel mit rhythmischer Markierung (Beat/Off-Beat) hervorragend zur rhythmischen und zugleich tonal stützenden Begleitung von Liedern.
Dass sie nach dem Klavier an zweiter Stelle in der >Instrumenten-Beliebtheitsskala< der Deutschen steht, unterstreicht die allgemeine Funktionalität des NGL. In musikalischer Hinsicht liegt mit dem Neuen Geistlichen Lied eine eigenständige Gattung vor. Der junge Theologe Tobias Lübbers analysierte die Songs des NGL in einer detaillierten musikstilistischen Analyse (T.Lübbers, Das Neue Geistliche Lied. Eine kritische Betrachtung der musikalischen Struktur unter Berücksichtigung verschiedener Einflüsse der Popularmusik, Diplomarbeit im Studiengang Musikerziehung. Unveröffentlichtes Manuskript einer Diplomarbeit an der Hochschule für Musik und Theater Hannover) als 'popularmusikalisch beeinflusste Lieder'. Das NGL ist demnach eine Stilbildung innerhalb der Pop-/Rockmusik im weitesten Sinne. Was anders auch Popularmusik genannt wird, repräsentiert die stilistische Bandbreite aus Folk, Spiritual/Gospel, Jazz, Beat und Rockmusik. Aus diesen fünf Strömungen der Popularmusik finden sich im weiten Feld des NGL unterschiedlichste und – je nach Komponist – divers akzentuierte Anleihen. Lübbers hat auch aufgezeigt, dass sich das NGL nicht streng an die Gesetze eines einzelnen Musikstils hält. Es spielt – mitunter durchaus kunstvoll – mit den Schemata der popularmusikalischen Vorgaben, wenn es bspw. Einen starren Beat aufbricht und so eine Textpassage unterstreicht. Er analysiert: Im Arrangement bzw. der Darbietung bei Gottesdiensten, Konzerten und auf Tonträgern dominieren Zusammenstellungen aus der Jazzformation (Combo mit Drums, Bass, Piano, Trompete) bzw. Beatformation (Drumset, EBass, E-Gitarre, Melodiegitarre/ Rhythmusgitarre evtl. auch ersetzt durch Tasteninstrumente). Beim Beat ist vor allem typisch, dass der melodiöse Gesang im Vordergrund steht. Die Singbarkeit macht Beatmusik übrigens gemeindegängiger als etwa den Jazz. Melodiosität und Rhythmus des Beat liegen – was ihn vom Jazz unterscheidet, wenn auch simpler macht – vielen Menschen eher. Oft werden aber auch Beat und Rockeinflüsse in den Liedern kombiniert. Die Reproduzier- und Singbarkeit, die z.B. Peter Janssens beanspruchte (und weswegen er Vormanche Liedidee bewusst 'herunterzog'), mochte unter musikalischer Hinsicht kritisiert werden, orientierte sich aber andererseits an der Gemeindetauglichkeit, die die Liturgiewissenschaft von der Kirchenmusik fordert. Sein Gebrauchswert legitimiert die Form des NGL. Stichwort: Besetzung Die musikalische Realisation des NGL im engeren Sinne setzt in der Regel auf 'Gemeindetauglichkeit'. Das spiegelt sich in der Instrumentierung wider. Als realisierbare Standardformationen gelten hier Kombinationen aus: Gitarre (als optimales Begleitinstrument des Gesangs); Querflöte (als Bereicherung des Klangbilds); Keyboard (als Füllinstrument das den Gesamtklang verstärkt oder als Haupt-Begleitinstrument eingesetzt); (E-)Bass sowie Rhythmus-/Perkussionsinstrumente. Trompete, Saxophon und Streicher sind besonders in den Studioeinspielungen verbreitete Zusatzinstrumente. Mit dieser Standardbesetzung hebt sich das NGL vom kommerziellen Pop-/Rock ab. Die Mehrzahl der genannten Instrumente ist akustischer Art, kann also ohne elektronische Verstärkung gespielt werden. Zweites Profilmerkmal:
Sitz im Leben

Stichworte:
Gemeinde & Gottesdienst

Es wurde in Teil 1 schon ausgewiesen, dass es starke historische Argumente gibt, das NGL von einer christlich motivierten Erarbeitung ‚christlicher Schlager‘ zu unterscheiden. Davon unterscheidet es sich auch artifizieller Absicht und durch eben spartentypische Machart. Es kann ja nur einschlagen, was einschlägig (sprich: für den Markt konsenstauglich) ist.
Als eine eigenständige Liedform erweist sich das NGL auch in seiner weit gefassten kirchenmusikalischen Funktionalität.
In den Charts oder auf dem Dancefloor wird sich das NGL keine Chancen ausrechnen können und das auch (weithin) nicht wollen.
Dem widersprechen auch die Kommunikationsabsichten des
NGL. Das NGL hat eine singende oder sehr aktiv hörende Gemeinde im Sinn, nicht Berieselung oder Showeffekte. Auch fehlt in seiner Szene die dominierend kommerzielle Bestimmung, wie sie handelsüblicher Musikware anhaftet. Die Tonträger des NGL waren lange Zeit mehr Gebrauchsgegenstände z.B. für gemeindliche Planungen, zur Erweiterung des Liedrepertoires für Gottesdienst und
Gemeindearbeit) denn Hörerlebnisse der Entspannung. Auf vielfache Weise unterschiedet sich dieses Liedgut von dem, was man üblicherweise zu hören bekommt.

All dies zeichnet das NGL als eigene Spielart aus: Die neuen Lieder sind, im Unterschied zu manchen anderen Versuchen, nicht einfach in den Kirchenraum geholte Popmusik mit nachträglich hinzu getextetem, quasi ‚getauftem‘ Libretto. Sie kommen aus der Jesus-Bewegung (die wir Kirche nennen) und ist für deren Leben gedacht.
Autoren wie Wilhelm Willms, Lothar Zenetti, Eugen Eckert, und Alois Albrecht waren durch ihren Beruf als Geistliche mit dem Problem konfrontiert worden, dass neue Lieder gebraucht wurden.
Dass dabei das Verständnis gottesdienstlichen Handelns teilweise bewusst weit gefasst war, soll hier nur erwähnt werden. Ungewöhnliche Gottesdienstelemente oder –formen werden mit dieser Musik praktiziert. In Versammlungsräumen von Gasthöfen oder in Gemeindezentren, auf dem Boden sitzend, feierte man mit den Liedern (u.a.) von Albrecht, Metternich und Janssens Eucharistie.
In die Feier können eingebettet sein Gesprächsforen und Diskussion.
Es gab und gibt eine ganze Reihe Texter, Komponisten und Musiker im Spektrum des neuen Lieds, die als Kreative nahezu ausschließlich für diese Musikrichtung arbeiteten oder arbeiten (Fritz Baltruweit, Eugen Eckert, Peter Janssens, Gregor Linßen, Wilhelm Willms uvm.).

Drittes Profilmerkmal:
Entstehungszusammenhang

Stichwort: Situationsbezug

Das NGL ist eine Spielart der christlichen Popularmusik. In dessen Feld kennen wir außerdem Spiritual- und Gospelsongs und das weite Spektrum der wesentlich durch die US-amerikanische Jugendmissionsbewegung der 60er Jahre inspirierten Erweckungsmusik (wie die so genannten Lobpreislieder etwa Arne Kopfermanns oder der Band Petra), ferner den Markt der mehr oder weniger kommerziellen christlichen Popmusik z.B. für evangelistische Hörfunkstationen, Liedermacher und Kleinkünstler (ein Schaufenster dieser Szene ist u.a. die
jährliche Agenturbörse PROMIKON, wie sie 2004 wieder in Gießen stattfand). Das NGL bleibt hierbei außen vor.
Die ‚Modernität‘ des Klanggewands allein reicht eben nicht aus, um das NGL angemessen zu charakterisieren. Gerade das NGL ist nämlich vielfach in der Lage, auch unbequeme theologische Positionen präsent zu halten, die eindeutig – oft katholisch – gottesdienstlich verortet sind, andererseits starke Züge ethischer Selbstermahnung tragen können.

Gerade im NGL vermischen sich liturgische und ‚politische‘ Aspekte zu einem weltwachen Gottesdienst. Man denke nur an Songs wie das ANDERE OSTERLIED (Marti/Janssens) oder das Pfingstlied LÖSCHT DEN GEIST NICHT AUS (Lüchtefeld/Florenz).

Einige weitere Unterschiede gibt es festzuhalten, will man den Begriff NGL nicht als einen vagen Terminus handhaben:

1 | Vorwiegend die Verwendung musikalischer Idiome der
Pop-/Rockmusik verbindet das NGL zwar mit Formationen wie etwa MIC, einer südafrikanischen Variante von Boy-Formationen in der Machart von den Backstreet Boys oder Normal Generation? Letztere schwimmen im Gewoge einer steigenden Anzahl christlich bekennender Musiker. Bereits 1996 war in der Zeitschrift EXACT! Zu lesen: ‚Die Zeiten haben sich geändert. Der Bereich ‚Popmusik mit christlichen Inhalten‘ oder ‚Musiker, die Christen sind‘, ist gewachsen, hat sich endlos verzweigt, findet zunehmend Akzeptanz in den so genannten ’säkularen‘ Medien und Vertriebskanälen.‘

2 | Selbst Heavy Metal gibt es in den USA in christlicher Wendung.
HM heißt dort nicht wie hierzulande Heavy Metal sondern Heaven’s Metal.

3 | Es gibt zudem einen breit gefächerten, stilistisch pluriformen Strang an Pop-/Rockmusik, deren Interpreten sich als so genannte Reborn Christians verstehen. Dabei handelt es sich um eine Bekehrungsbewegung, die insbesondere unter US-amerikanischen und britischen Künstlern Zulauf erfährt (zu ihnen zählt sich u.a. Cliff Richard).
Diese Spielart christlicher Popularmusik will nicht per se und ausschließlich evangelisierenden Inhalt thematisieren oder die Kirchenmusik ausweiten. Hier will man vielmehr dem künstlerischen Beruf ausdrücklich aus christlicher Motivation nachgehen.

4 | Anders wiederum bei den Vertretern und Anhängern der so genannten Erweckungsmusik etwa den ‚Praise & Worship-Songs‘ (= P&W), bei denen sich Interpreten wie Publikum durch Akzentuierung der gemeinsamen sozialen Verortung (Spielart engagierten protestantischen Christentums) auszeichnen.
Hier findet man die Pop-/Rockmusik zur Erweckung und also von christlichen Künstlern dargeboten, die in eigenen Konzerten evangelisierende Bekenntnisse und Aufrufen zur Umkehr nicht stören. Oft werden die P&W-Konzerte als Anlass für Ansprachen im Stile einer Missions- bzw. Erweckungspredigt genutzt. Das dabei zur
Schau gestellte ‚Glaubensglühen‘ überschreitet dabei für manchen (nicht pietistisch sozialisierten) Geschmack die Schamgrenze.

Stichwort: Merkantilität

Mit der soziokulturellen Verortung der genannten Musikstile in das engagierte Christentum handelt es sich zweifelsohne bei allem Vorgestellten um Spielarten geistlicher Musik.
Solche (Text-)Musik will der Botschaft des Evangeliums durch Text wie Musik dienen. Das Neue Geistliche Lied wiederum erfüllt diese Funktion seinerseits ausdrücklich als vorzugsweise gemeindlich gesungenes Lied, seltener als Vortragsstück und unterscheidet sich in herkunft und Anlage von anderen Strängen christlicher
Popularmusik.

Weitere Abgrenzungen müssen genannt werden:

1 | Anders auch als der kommerzielle Pop/Rock und auch noch anders als US-amerikanisches White Gospel und Erweckungsmusik von durchaus bekannten Verlagen und Labels ist das NGL in seiner Distribution und Logistik noch nicht in diesem Ausmaß (!) professionalisiert.

2 | Das NGL ist auch, anders als die kommerzielle Pop-/Rockmusik und einige Zweige der populären christlichen Musik, allenfalls zweitrangig distributionsorientiert.
Es rentiert sich weniger durch den Verkauf von Tonträgern als vielmehr durch seine Performanz (die sich für die Kreativen über Abdruckgebühren und Aufführungsgebühren rechnet).

3 | Seine Interpreten sind häufig nur nebenberuflich für die Musik tätig. Janssens etwa finanzierte sich zeitweise durch Anstellung an den Städtischen Bühnen Münster. Andere – wie etwa Robert Haas oder Klaus Simon – sind in kirchlichen Berufen tätig. (Nb: Hier trägt die Kirche durch (teils großzügige) Freistellungen indirekt Verantwortung für die Entfaltung künstlerischer Fähigkeiten.)

Bei aller gebotenen Kürze dürften doch die Abgrenzung des NGL innerhalb der Spielarten christlicher Popularmusik, seine stilistisches Profil, seine funktionelle Trennschärfe und seine Eigenart in ökonomischer Hinsicht deutlich geworden sein. Bei aller Verwandtschaft mit anderen Stilen kann das NGL – wenn auch mit bisweilen unscharfen Rändern – als originelle Spielart innerhalb der christlichen Popularmusik und der Pop-/Rockmusik erkannt und anerkannt werden.